IT wird erwachsen
Vor kurzem las ich einen Erfahrungsbericht eines Product Managers, der sich in der IT um einen neuen Job bemühte. Von seinen vier Key Learnings blieb ich beim zweiten Punkt hängen:
People come to tech for the money, not the passion.
Das passt zu einem Trend, den ich persönlich auch beobachte. Allerdings sehe ich das weniger emotional, als der Autor des obigen Zitats. Passion ist nicht zwangsweise besser als Geld.
IT im 20. Jahrhundert
Als ich gegen Ende der 1990er Jahre mein Abitur in Angriff nahm, hieß der Informatikunterricht noch offiziell Mathe-Diff, was symptomatisch für die Informationstechnologien war. So recht verstanden waren sie noch nicht und subsummierten unter diversen anderen - etablierten - Disziplinen.
Entsprechend gab es auch keine studierten Informatiker. Falls man doch einen traf, war dieser meist hochgradig theoretisch unterwegs und gab sich nicht mit so profanen Dingen wie SelfHTML ab. Die Informationstechnik entwickelte sich dank der DotCom-Blase weitgehend abseits gildenhafter Zunften, die in der Lage gewesen wären, Standards zu setzen. IT war eine Pionierlandschaft, die Leidenschaft (und Frustrationstoleranz) und Gestaltungswillen benötigte, um dort bestehen zu können.
IT etabliert sich
Während in den frühen 2000ern noch mannigfaltige Berufsausbildungen bei IT’lern zu finden waren, kamen auch eine Unmenge an strukturierten IT-Studiengängen auf. Die Ausbildung standardisierte sich und Leidenschaft und Gestaltungswillen wurden abgelöst durch Fleiß und Lernbereitschaft. Natürlich nicht bei allen, aber mit der Etablierung der IT und dem Verlassen der Nerd-Ecke dank Mainstream-Studiengängen wurde eine neue Phase eingeleitet.
Jede neue Branche muss sich erst finden, ihre Position im gesellschaftlichen Kontext ausloten und läuft zwangsweise darauf hinaus, mehr oder minder reglementiert zu werden. Bis zur zur regelrechten Regulation ganzer Märkte. Informationstechnologien haben ihr Image der Mathe-Differenzierung erfolgreich abgelegt und sind wesentlicher Bestandteil von geschäftskritischen Prozessen und alltäglichen Produkten. Da ist es nachvollziehbar, dass die individuelle Pioniersarbeit, die lediglich im eigenen Unternehmen Geltung hatte, durch Branchenstandards eine Reifung erfahren haben, die Verlässlichkeit bringt.
Standards schaffen Verlässlichkeit
Standards haben einen enormen Wert. Man erkennt ihn meist erst dann, wenn es keine gibt. So schwärmte mir eine mexikanische Bekannte stundenlang vor, wie großartig die DIN sei, man wisse immer, womit man es zu tun habe. Da IT nie für sich selbst steht, ist es wichtig, mit anderen Bereichen kommunizieren zu können. Je weniger beliebig und je vorhersehbarer die Arbeitsweise ist, desto leichter lässt sich kooperieren. Standards wie agile Entwicklungsmuster, Continuous Integration, Event Storming oder meinetwegen auch SAFe zeigen einerseits, wie eine Wild-West-Branche inzwischen sich selbst in klare Bahnen gelenkt hat, aber auch, dass der Bedarf an klaren, “richtigen” Handlungsweisen enorm ist.
Die Pioniere klagen jetzt, dass ihnen alle Freiheiten genommen werden und sie sich sklavisch an “idiotische Handlungsmuster” halten müssen. Dies ist nicht agil, das nicht technisch elegant. Auch wenn sie oft Recht haben und Pioniere neue Themenfelder erschließen können wie kein Zweiter, braucht es nicht nur Pioniere. Die vielzitierten 10x Engineers sind im Grunde eine Subspezies dieser Pioniere. Jeder, der einmal mit Rock-Star-Developern zusammengearbeitet hat weiß, wie wertvoll, aber auch moralisch zersetzend diese Art sein kann.
Reifung oder Tod
Eine Branche, die nicht reift, hat ihren Markt (noch) nicht gefunden. Sie wird über kurz oder lang aussterben, wenn sie sich nicht stabilisiert und dann - wie in den letzten Jahrzehnten in der IT - klare Standards etabliert. In den Bereichen Ausbildung, Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen und Auftritt am Markt ist in althergebrachten Branchen wenig Pioniersarbeit erforderlich. Der positive Effekt ist, dass die Zugangshürden deutlich gesenkt werden, statt intrinsischer Motivation und aufopfernder Leidenschaft reicht die Lust, auch einen spannenden Job. Eine Branche kann wachsen, weil sie nicht von einigen weniger Quereinsteigern abhängig ist, die zufällig die gesuchten Eigenschaften mitbringen. Der negative Effekt ist jedoch, dass Pioniersarbeit - im Jahr 2021 häufig als Innovation-Management benannt - ungleich schwerer wird. Gelernte Regeln zu brechen, zu erweitern und den status quo zu verschieben sind keine Eigenschaften, die Menschen mit einer Vorliebe für erlernbare 9-to-5 Jobs mitbringen. Hierfür braucht es Passion.
Love it or leave it
Im IT-Alltag gibt es eine Menge Unzufriedenheit. Meist wollen Mitarbeiter wechseln, weil das Gras beim Nachbarn vermeintlich grüner ist (die Dienstleister wollen lieber in ein Produkthaus, die Legacy-Code-Warter möchten lieber wechselnde Herausforderungen, im Startup gibt es so viel Gestaltungsspielraum, beim Konzern hab ich endlich meine Sicherheit - die Beispiele sind nahezu endlos). Über allem schwebt jedoch die Reifung einer Branche, die in ihrer Form nichtmal seit 30 Jahren wirklich existiert. Die erste Phase des Ausprobierens scheint vorbei, doch bleibt uns in dieser Frühphase der IT (verglichen mit anderen Branchen wie Bau, Chemie, Versicherung, Bildung hat die IT ja gerade erst begonnen) eine hohe Volatilität noch eine ganze Weile erhalten. Innerhalb von zehn Jahren ändert sich eine Menge, so dass man nicht erwarten sollte, dass die Arbeit sich so anfühlt wie vor einem Jahrzehnt. Das wird man nirgendwo mehr finden, außer bei rückständigen Unternehmen, die sich zukunfts-avers verhalten.
In diesem Sinne bleibt jedem Mitarbeiter in der IT entweder den laufenden Reifungsprozess ihrer Branche anzuerkennen und diesen bewusst zu akzeptieren oder einen Branchenwechsel zu erwägen. Wie in den Agenturen der Web 2.0er arbeitet 2022 hoffentlich niemand mehr.